Das solltest du über Shared Decision Making bei MS wissen
Die Landschaft der Kommunikation zwischen Arzt und Patient befindet sich im Wandel – nicht nur bei MS: Terminabsprachen, Beratungs- und sogar Diagnosegespräche finden dank Telemedizin und Videosprechstunde teilweise digital über weite Entfernungen statt. Es gibt Trainings- und Fortbildungsangebote gezielt für Arzt-Patienten-Gespräche und die Patientenperspektive gewinnt in Form von patientenberichteten Ergebnissen (PROs) auch in klinischen Studien immer mehr an Bedeutung. Aber eine der grundlegendsten Veränderungen ist die Entwicklung vom Monolog zum Dialog: Die Rede ist vom Shared Decision Making.
Was bedeutet das genau? Und welche Aspekte beinhaltet das? Darauf gehen wir für Dich in diesem Artikel ein.
Kommunikation als Schlüssel mehr Aufklärung und Therapiezufriedenheit bei MS
Für lange Zeit lag die Entscheidung über eine Therapie ausschließlich beim Arzt. Den Patienten blieb nur die Wahl, den Anweisungen zu folgen – oder eben nicht. Dieses streng hierarchische Modell gilt heute als veraltet. Stattdessen haben Kommunikation auf Augenhöhe und das sogenannte Shared Decision Making (auch „partizipative Entscheidungsfindung“) Einzug in die Sprechzimmer gehalten.
Der Wandel basiert auf der Erkenntnis, dass mündige Patienten, die aktiv in Entscheidungen einbezogen werden, zufriedener mit ihrer Behandlung sind und eine höhere Adhärenz zeigen. Ein zentraler Pfeiler dabei ist das Selbstmanagement, das eng mit der Eigenverantwortung und der gesteigerten Motivation dieser Patienten verknüpft ist. Dies zeigt sich beispielsweise in der konsequenten Einhaltung von Behandlungsplänen, der Umsetzung empfohlener Lebensstiländerungen und einem aktiven Umgang mit Symptomen. Durch die verlässliche Durchführung der Therapie steigern sie die Chancen auf einen nachhaltigen Behandlungserfolg.
Entscheidungsunterstützende Materialien, Aufklärungsgespräche und patientenorientierte Informationsangebote tragen entscheidend dazu bei, dass Patienten ihr Selbstmanagement erfolgreich umsetzen können. Dabei geht es nicht nur um Informationen zu Multipler Sklerose und den verfügbaren Therapien, sondern auch um unterstützende Angebote wie Selbsthilfegruppen oder digitale Gesundheitsanwendungen, die den Wissenstransfer erleichtern und die praktische Umsetzung im Alltag fördern.
Neben der Verfügbarkeit geeigneter Ressourcen spielt auch die Qualität der Interaktion zwischen Arzt und Patient eine zentrale Rolle. Grundlage dafür ist eine umfassende Aufklärung durch die Fachkräfte: In ausführlichen Gesprächen tauschen sich Ärzte und Patienten aktiv über die Erkrankung, mögliche Therapien sowie deren Vor- und Nachteile aus.
Shared Decision Making bedeutet dabei nicht, dass Patienten denselben Wissensstand wie die Behandelnden haben müssen, sondern dass sie über ausreichend Informationen verfügen, um fundiert in Entscheidungen einbezogen zu werden. Eine vertrauensvolle Beziehung ermöglicht offenes Feedback, ehrliche Gespräche über Sorgen und Präferenzen sowie die Bereitschaft, Therapieoptionen gemeinsam zu prüfen. Nur so entstehen Entscheidungen, die fachlich fundiert, realistisch und für beide Seiten tragfähig sind.
Zur Unterstützung solcher Gespräche bieten wir das Downloadmaterial „Therapiegespräch bei MS: Tipps für informierte Entscheidungen“ an. Der Leitfaden enthält praxisnahe Fragen und Anregungen, die Dir helfen, gemeinsam mit Deinem Arzt die bestmögliche Therapie für Deine individuelle Situation zu finden.
MS-Kommunikation im Praxisalltag
Der Ansatz, Therapieentscheidungen gemeinsam zu treffen, setzt sich also immer mehr durch. Selbst einige medizinische Leitlinien berücksichtigen das Shared Decicion Making bereits. Immer häufiger ist darin davon die Rede, dass bestimmte Behandlungen „empfohlen werden sollen“ statt der früher üblichen Formulierung, dass sie „verordnet werden sollen“. Auch darin spiegelt sich die partizipative Entscheidungsfindung wider. Bei Erkrankungen wie MS gehört das Shared Decision Making häufig schon zum Therapiealltag und wahrscheinlich wird dies bei Dir und Deinem Arzt auch schon so gehandhabt, dass Ihr Euch auf Augenhöhe zu Deiner MS-Therapie austauscht.
Der mündige Patient und der Weg zu einer gemeinsamen Therapieentscheidung
Wie kann nun die Therapiefindung in der Praxis aussehen? Dafür sollten Dein Arzt und Du die folgenden Themen besprechen – im Wesentlichen sind es vier Schritte, die auf dem Weg zur Behandlungsentscheidung zurückzulegen sind:
- Aufklärung: Dein Arzt erläutert Dir Dein Mitspracherecht bei der Auswahl einer MS-Therapie.
- Optionen: Dein Arzt stellt Dir die verschiedenen Therapiemöglichkeiten vor und erläutert deren Vor- und Nachteile.
- Abwägungen: Diese Vor- und Nachteile werden gegeneinander abgewogen. Außerdem werden Deine Präferenzen abgefragt und berücksichtigt.
- Entscheidung: Ihr trefft gemeinsam eine Entscheidung für eine Behandlung und erstellt einen Therapieplan.
Gut zu wissen: Shared Decision Making hört nicht damit auf, dass eine Therapieentscheidung getroffen wurde. Es handelt sich um einen fortlaufenden Prozess, in dem es auch notwendig werden kann, die Medikation zu ändern – etwa, wenn sie nicht ausreichend wirkt oder Du Probleme mit Nebenwirkungen oder der Einnahme hast. Auch solche Entscheidungen sollten immer gemeinsam mit Deinem Arzt getroffen werden.
Um Dich bei diesen Prozessen zu unterstützen, empfehlen wir unsere Artikelserie zum Therapiewechsel bei MS, die Hintergründe, praktische Hinweise und konkrete Tipps für Gespräche mit dem Arzt vermittelt:
Die beiden Teile geben einen Überblick über die häufigsten Gründe für einen Therapiewechsel und erläutern, wie Patienten gemeinsam mit ihrem Arzt die passende Therapieoption auswählen können. Thematisiert werden sowohl medizinische Aspekte wie Wirksamkeit und Nebenwirkungen als auch persönliche Präferenzen und Lebensstilfaktoren.
Der Assistenzarzt und Studienarzt in der Studienambulanz an der Klinik für Neurologie erklärt praxisnah, warum ein Therapiewechsel nötig sein kann und welche Untersuchungen und Kontrollen dabei wichtig sind.
- Therapiewechsel bei Multipler Sklerose – FAQ
Antworten auf häufig gestellte Fragen und praxisnahe Tipps für Patienten, um den Therapiewechsel erfolgreich zu gestalten.
Wenn Shared Decision Making auf die Praxis trifft
Auch im Rahmen von Shared Decision Making können im Alltag immer wieder Hürden auftreten, die den Prozess erschweren. Trotz der gemeinsamen Entscheidungsfindung sind Arzt und Patient nicht automatisch auf derselben Informationsbasis oder haben identische Erwartungen an das Gespräch und die Therapieziele. So können begrenzte Zeitressourcen, während der Termine dazu führen, dass Fragen nicht vollständig gestellt oder ausführlich beantwortet werden. Unterschiedliche Kommunikationsstile – etwa die Präferenz des Arztes für fachlich-detaillierte Erklärungen gegenüber dem Wunsch des Patienten nach praxisnahen, verständlichen Informationen – können zu Missverständnissen führen. Ebenso können die Vorstellungen darüber, welche Therapieziele realistisch oder vorrangig sein sollten, auseinandergehen: Während Ärzte oft den Fokus auf Wirksamkeit und Sicherheit legen, priorisieren Patienten häufig Aspekte wie Lebensqualität oder Alltagstauglichkeit.
Diese Unterschiede zeigen, dass Shared Decision Making kein automatischer Garant für reibungslose Entscheidungsprozesse ist. Vielmehr erfordert es Aufmerksamkeit, Vorbereitung und aktives Nachfragen von beiden Seiten, um Missverständnisse zu vermeiden und sicherzustellen, dass Entscheidungen für alle Beteiligten nachvollziehbar sind. Ziel bleibt stets ein gegenseitiges Verständnis, das eine Therapie ermöglicht, die sowohl medizinisch sinnvoll als auch auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten abgestimmt ist.
Shared Decision Making bei MS
Nicht bei jeder Erkrankung hat Shared Decision Making den gleichen Stellenwert. Bei MS kommt der gemeinsamen Entscheidungsfindung jedoch eine besondere Bedeutung zu.
Das Management einer chronischen Erkrankung ist für Betroffene häufig ein Vollzeitjob. Du kennst das vielleicht auch: Seit der Diagnose beschäftigst Du Dich mit der Erkrankung, möglichen Therapien und aktuellen Entwicklungen aus der Forschung. Du liest beispielsweise Artikel zu MS, folgst womöglich inspirierenden Patientenprofilen in den sozialen Medien und besuchst regelmäßig Portale für Betroffene – wie leben-mit-MS.de. Kurzum: Du bist – wie viele andere Menschen mit MS – gut informiert und auf dem Laufenden. Letztlich bist Du die Person, die mit der Erkrankung lebt und die Therapie durchführen muss. Deswegen wird es Dir und Deinem Wissensstand nicht gerecht, wenn relevante Entscheidungen darüber ohne Deine Mitsprache getroffen werden. Viele Menschen mit MS haben daher von sich aus den starken Wunsch nach einem Arzt-Patienten-Dialog auf Augenhöhe.
Darüber hinaus gibt es noch weitere Faktoren, die dazu beitragen, dass Shared Decision Making bei MS so einen hohen Stellenwert hat. Dazu zählen:
- individuell sehr unterschiedliche Krankheitsverläufe
- zahlreiche verfügbare Therapieoptionen,
- ein breites Spektrum an Darreichungsformen, das von Tabletten über Spritzen bis hin zu Infusionen reicht
- innerhalb der Therapieoptionen sehr unterschiedliche Einnahmefrequenzen, von zweimal täglich bis zu Impulstherapien mit kurzen Einnahmephasen und langen behandlungsfreien Intervallen
Auch die persönlichen Präferenzen und Lebensumstände spielen bei der gemeinsamen Therapieentscheidung eine Rolle und sollten deswegen berücksichtigt werden. Viele MS-Betroffene stehen bei der Diagnose „mitten im Leben“, managen die Erkrankung parallel zu Familien- und Arbeitsalltag und wünschen sich eine Therapie, die damit möglichst unkompliziert vereinbar ist. Faktoren wie ein bestehender Kinderwunsch können genauso einen Einfluss auf die Therapiefindung haben wie eine Abneigung gegen bestimmte Applikationsformen, beispielsweise Spritzen.
Behandlungsalltag der Zukunft
Natürlich wird es immer Ärzte und Patienten geben, die dem Shared Decision Making nichts abgewinnen können. Eines steht jedoch fest: Die Bildung der Patienten über ihre Erkrankungen und Behandlungsmöglichkeiten kann deren Fähigkeit stärken, aktiv an der Entscheidungsfindung teilzunehmen.
Und nun möchten wir natürlich von Dir wissen: Was sind Deine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen mit Shared Decision Making bei MS? Wenn du darüber oder allgemein über Dein Leben mit MS sprechen möchtest, dann kontaktiere uns unbedingt, z. B. über Facebook und Instagram. Wir freuen uns auf Dich.
DE-NONNI-01015, 10/2025