Umstellung der MS-Medikation: Was es zu beachten gibt

Immer wieder kommt es vor, dass die MS-Medikation umgestellt werden muss. Niklas Huntemann ist Assistenzarzt und Studienarzt in der Studienambulanz an der Klinik für Neurologie sowie Mitglied der Arbeitsgruppe Neuroimmunologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Im Interview beantwortet er die häufigsten Fragen zum Thema Therapiewechsel. Was sind mögliche Risiken bei einem Wechsel – und welche Untersuchungen und Tests können dazu beitragen, diese zu minimieren? Dies erfährst Du hier in Teil 2 unserer zweiteiligen Interviewserie zum Therapiewechsel bei MS.

Rebound-Effekt bei MS und weitere mögliche Risiken

Welche möglichen Risiken gehen mit einem Therapiewechsel einher?

Ein Therapiewechsel kann verschiedene Risiken mit sich bringen, die vorher sorgfältig abgewogen werden müssen. Zu den möglichen Risiken gehört die Gefahr einer Therapielücke. Diese entsteht, wenn sich ein zu großer zeitlicher Abstand zwischen dem Absetzen der alten Therapie und dem Beginn der neuen Therapie ergibt. Während dieser Zeit kann die MS-Aktivität zunehmen, da keine ausreichende Behandlung erfolgt. Um dieses Risiko zu minimieren, ist es wichtig, den Wechsel behutsam zu planen und unter Berücksichtigung möglicher Sicherheitsabstände nahtlos zu gestalten.

Umgekehrt kann jedoch ein zu enger Zeitabstand zwischen den beiden Behandlungen dazu führen, dass eventuelle Veränderungen im Blutbild, den Leber- oder Nierenwerten nicht abgeklungen sind. In diesen Fällen kann das neue Präparat zu einer Zunahme der vorbestehenden Nieren- oder Leberschäden führen oder durch eine doppelte Immunsuppression das Auftreten schwerer Infektionen begünstigen.

Nebenwirkungen sind ein weiteres bedeutendes Risiko bei einem Therapiewechsel. Jede neue Therapie bringt das Potenzial für neue Nebenwirkungen mit sich, die vorher möglicherweise nicht aufgetreten sind. Dies können akute Nebenwirkungen wie allergische Reaktionen, Übelkeit oder Kopfschmerzen sein, aber auch langfristige Probleme wie Leber- oder Nierenschäden. MS-Patienten müssen eng überwacht werden, um frühzeitig auf unerwünschte Wirkungen reagieren zu können. Eine ausführliche Aufklärung über mögliche Nebenwirkungen und regelmäßige Kontrolluntersuchungen sind hierbei entscheidend. Abschließend ist zudem die Gefahr eines Rebounds der MS-Krankheitsaktivität nach Beendigung einer Therapie zu nennen.

Was ist der Rebound-Effekt bei MS?

Als „Rebound-Effekt“ wird bei der MS eine verstärkte Krankheitsaktivität bezeichnet, die nach dem Absetzen oder Wechsel einer bestimmten Therapie auftreten kann. Dies bedeutet, dass die MS-Symptome in einem stärkeren Ausmaß zurückkehren oder sich verschlechtern, nachdem die Behandlung beendet wurde. Der Rebound-Effekt tritt insbesondere nach dem Absetzen von bestimmten MS-Medikamenten auf, die das Immunsystem stark unterdrücken oder modulieren. Beim Absetzen dieser Medikamente kann es zu einer plötzlichen Rückkehr der entzündlichen Aktivität kommen, da das Immunsystem wieder aktiviert wird. Diese Rückkehr der entzündlichen Aktivität kann sich klinisch durch eine Zunahme von Schüben oder auch bildgebend in Form neuer oder vergrößerter Entzündungsherde in der Magnetresonanztomographie (MRT) bemerkbar machen.

Das Risiko des Rebound-Effekts bei MS wird neben individuellen Faktoren insbesondere durch die spezifische Therapie bestimmt, die in diesem Fall abgesetzt wird. Der Rebound-Effekt kann unterschiedlich schnell nach dem Absetzen der Therapie auftreten, in einigen Fällen bereits wenige Wochen nach Absetzen des Medikaments, in anderen Fällen erst nach mehreren Monaten.

Um dieses Risiko zu minimieren, ist es wichtig, das Absetzen oder Wechseln der Therapie gründlich zu planen und zu überwachen, um eine zu lange Therapiepause zu vermeiden, damit die überschießende Immunantwort durch die neue Behandlung unterdrückt werden kann. Eine sorgfältige Überwachung und regelmäßige MRT-Kontrollen sind wichtig, um frühe Anzeichen eines Rebounds zu erkennen und rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen.


Kontrollen und Untersuchungen: MS-Therapiewechsel so sicher wie möglich gestalten

Wie sieht der Übergangsprozess von einem Medikament zum anderen aus und was müssen Sie als Behandler beachten?

Der Übergangsprozess bei einer Therapieumstellung muss gewissenhaft geplant und überwacht werden, um eine durchgehende Wirksamkeit bei gleichzeitiger Minimierung potenzieller Risiken sicherzustellen. Am Anfang dieses Prozesses steht immer eine Beratung über mögliche Therapieoptionen mit einer umfassenden Aufklärung über die Indikation, Wirkmechanismen, die Anwendungsform sowie das Risikoprofil der potenziellen Behandlungsformen.

Ein wichtiger Aspekt beim Wechsel der Therapie sind die Auswasch- und Karenzzeiten. Viele MS-Medikamente haben eine bestimmte Zeitspanne, in der sie aus dem Körper ausgeschieden werden, bevor mit einer neuen Therapie begonnen werden kann. Diese Karenzzeiten variieren je nach Medikament und sind entscheidend, um unerwünschte Wechselwirkungen zu vermeiden und die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten. Einige Medikamente müssen vor Therapieumstellung zudem aktiv ausgewaschen werden und der Erfolg dieses Prozesses vor Behandlungsstart kontrolliert werden. Grundsätzlich gilt, dass sich eventuelle Effekte der Vortherapien auf die Leber- und Nierenwerte sowie das Blutbild vor Beginn der neuen Therapie normalisiert haben sollten. Zu den notwendigen Untersuchungen gehören daher die Überprüfung der Leber- und Nierenfunktion, des Blutbildes und des Immunstatus. Gegebenenfalls muss bei anhaltenden Laborwertveränderungen eine sehr engmaschige Kontrolle der Blutparameter erfolgen, um möglichst schnell nach Erholung der Werte mit der neuen Therapie starten zu können. Dies gilt insbesondere beim Wechsel von Medikamenten, bei denen bei einer zu langen Therapiepause eine Zunahme der Krankheitsaktivität im Sinne eines Rebound-Effekts droht.

Darüber hinaus ist insbesondere beim Wechsel von bestimmten Antikörpertherapien bei MS darauf zu achten, vor Therapieumstellung das Vorliegen einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) so gut wie möglich auszuschließen. Dafür sollten eine MRT-Bildgebung sowie ggf. eine Lumbalpunktion zum Ausschluss des Nachweises von JC (John Cunningham)-Viren im Nervenwasser durchgeführt werden. Insbesondere bei Patienten, die mehr als zwei Jahre solche Therapien erhalten haben und bei denen Antikörper gegen das JC-Virus im Blut nachweisbar sind, ist Vorsicht geboten.

Hinsichtlich weiterer Untersuchungen von MS-Patienten vor einer Therapieumstellung ist zudem eine erneute Kontrolle des Impfstatus mit einer Auffrischung entsprechend der STIKO-Empfehlungen sinnvoll, wobei in Abhängigkeit der ausstehenden Impfungen eine enge Absprache mit dem behandelnden Arzt im Sinne einer Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen sollte. Auch sollte mittels einer Laborkontrolle das Vorliegen chronischer Infektionen wie einer Tuberkulose, Hepatitis oder HIV-Infektion ausgeschlossen werden.

Wechselwirkungen zwischen alten und neuen Medikamenten müssen ebenfalls sorgfältig berücksichtigt werden. Einige Medikamente können miteinander interagieren und unerwünschte Nebenwirkungen oder eine verminderte Wirksamkeit verursachen. Daher ist es wichtig, eine gründliche Anamnese der aktuellen Medikation des Patienten zu erstellen und mögliche Wechselwirkungen zu prüfen.

Therapiewechsel bei MS: Untersuchungen helfen, Veränderungen frühzeitig zu erkennen

Welche Kontrollen und Untersuchungen haben nach einem Wechsel einen besonders hohen Stellenwert?

Nach einer Behandlungsumstellung haben verschiedene Kontrollen und Untersuchungen bei MS einen besonders hohen Stellenwert, um die Wirksamkeit der neuen Behandlung zu überwachen und mögliche Sicherheitsbedenken frühzeitig zu erkennen. Regelmäßige MRT-Untersuchungen sind hierbei zentral, da sie es ermöglichen, unabhängig von klinischen Symptomen neue oder wachsende Läsionen (Schädigungen in Form entzündlicher Entmarkungsherde) im zentralen Nervensystem zu erkennen und die Wirksamkeit der neuen Therapie zu beurteilen. Wichtig ist zu erwähnen, dass die Durchführung einer Bildgebung rasch im Anschluss an die Einleitung der neuen Therapie besonders relevant ist, um den Effekt der neuen Behandlung bewerten zu können. Wenn diese „Baseline“-Bildgebung nicht durchgeführt wird, kann beim Auftreten neuer Läsionen unter Umständen nicht sicher eingeschätzt werden, ob diese noch unter alten Medikation oder bereits unter dem neuen Präparat entstanden sind.

Ebenso sind regelmäßige neurologische Untersuchungen der MS-Patienten wichtig, um den klinischen Status zu erheben. Diese Untersuchungen helfen dabei, Veränderungen in der motorischen Funktion, sensorischen Wahrnehmung, Koordination und anderen neurologischen Bereichen zu erkennen. Eine standardisierte neurologische Untersuchung inklusive des wichtigsten klinischen Verlaufsparameters, der Expanded Disability Status Scale (EDSS), kann dazu beitragen, kleinste Veränderungen in der Symptomatik zu dokumentieren und den Verlauf der MS unter der neuen Therapie zu verfolgen.

Des Weiteren sind Blutuntersuchungen entscheidend, um mögliche Nebenwirkungen der neuen Therapie zu überwachen. Regelmäßige Blutuntersuchungen helfen, nachteilige Effekte frühzeitig zu erkennen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Gleiches gilt je nach Substanz für die Überprüfung der Lymphozytenzahl, Immunglobulinspiegel und anderer immunologischer Marker. Eine sorgfältige Überwachung kann helfen, das Risiko schwerer Infektionen zu minimieren und eine geeignete Balance zwischen Krankheitskontrolle und Immunsuppression zu finden.

Ein wesentlicher Aspekt nach einem Therapiewechsel ist abschließend die systematische Erfassung und Bewertung von Nebenwirkungen. Patienten sollten angeleitet werden, neue oder sich verschlechternde Symptome zu melden.

Gibt es Fälle, in denen eine Deeskalation oder sogar ein Absetzen der Therapie sinnvoll sein kann?

Ja, es gibt Fälle, in denen eine Deeskalation oder sogar ein Absetzen der Therapie sinnvoll sein können. Eine Deeskalation auf weniger intensive Behandlungen kann vor allem dann erwogen werden, wenn die Krankheit über einen längeren Zeitraum stabil ist und das Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen durch die hochwirksame Therapie hoch bleibt. In diesem Kontext ist zusätzlich zum Tumorrisiko insbesondere auf das Auftreten einer gesteigerten Infektneigung im Sinne von Atemwegs- und Harnwegsinfektionen oder auch schweren Infektionen hinzuweisen, das durch eine anhaltende Immunsuppression mitbedingt wird. Ziel ist es, das Gleichgewicht zwischen effektiver Krankheitskontrolle und der Minimierung langfristiger Risiken zu finden. Dies gilt insbesondere bei älteren Patienten. Im Alter sinkt oftmals bedingt durch die lange Therapiedauer sowie den natürlichen Alterungsprozess die entzündliche Krankheitsaktivität, während die Nebenwirkungsrate steigt. Daher kann es zu einem Überwiegen der Risiken und Nebenwirkungen gegenüber den potenziellen Vorteilen kommen. Zusätzlich bestehen bei älteren Patienten häufiger Begleiterkrankungen, die durch die MS-Therapie verkompliziert werden könnten. Eine sorgfältige Bewertung des individuellen Krankheitsverlaufs und des allgemeinen Gesundheitszustands ist notwendig, um zu entscheiden, ob die Deeskalation zu einer Therapie mit zwar geringerer Effektivität aber auch geringerem Nebenwirkungsrisiko, oder gar das Absetzen der Therapie im Alter sinnvoll ist.

Ein Absetzen oder Umstellen der Therapie kann auch in Fällen einer geplanten oder eingetretenen Schwangerschaft sinnvoll sein. Einige MS-Medikamente bergen potenzielle Risiken für das ungeborene Kind. Daher ist eine Umstellung in Abhängigkeit der bestehenden Therapie dringend zu empfehlen. Die in vielen Fällen verminderte Krankheitsaktivität der MS während der Schwangerschaft verringert das Risiko für Schübe oder neue Läsionen, so dass auch eine Deeskalation der Behandlung und somit der Einsatz von Präparaten der Wirksamkeitskategorie 1 erfolgen kann. Ist dennoch eine effektivere Therapie zur Krankheitskontrolle notwendig, kommen insbesondere Substanzen mit langen Therapieintervallen infrage.

Bitte beachte: Insgesamt sollte ein Wechsel der Therapie immer sorgfältig und individuell abgewogen werden und in enger Absprache zwischen Arzt und Patient erfolgen, um die bestmögliche Behandlung und Lebensqualität sicherzustellen.

Du möchtest wissen, was die häufigsten Gründe für einen Therapiewechsel sind – oder welche Rolle die Lebensumstände bei der Wahl der Behandlung spielen? Antworten von Niklas Huntemann darauf findest Du in Teil 1 unserer Interviewserie zu diesem Thema.


DE-NONNI-00758, 06/2024