
Therapietreue, Adhärenz und Compliance bei MS – was ist das eigentlich?
Das lateinische Wort Adhärenz („adhaerere“ – anhängen, anhaften) wird in der Medizin dafür verwendet, die Therapietreue eines Patienten auszudrücken. Also dafür, wie gut sich Patienten an die Medikamenteneinnahme, die ihre Ärztin oder ihr Arzt empfohlen hat, halten. Vielleicht hast Du auch schon einmal den englischen Begriff „Compliance“ (Zustimmung, Einhaltung) gehört. Dieser wird häufig synonym verwendet, beschreibt aber nicht genau dasselbe wie Adhärenz.
Es ist wichtig die beiden Begriffe „Compliance“ und Adhärenz nicht miteinander zu verwechseln. „Compliance“ ist, laut WHO Definition, ein veralteter Begriff, der heutzutage zu negativ behaftet ist. Die meisten assoziieren ihn mit einem strengen Befolgen der ärztlichen Anweisungen, ohne dass der Patient ein Mitspracherecht hat. Unter Adhärenz versteht man die Beziehung zwischen Arzt und Patient eher als aktive Zusammenarbeit über den gesamten Behandlungszeitraum hinweg, bei der Entscheidungen gemeinsam getroffen und Ziele vereinbart werden.
Was so selbstverständlich, weil vernünftig, klingt, scheint in der Praxis gar nicht so einfach zu sein. Denn nicht alle Patienten halten sich immer konsequent an den mit dem Arzt abgesprochenen MS-Behandlungsplan.
Besonders bei Patienten mit einer chronischen Erkrankung ist die Adhärenz häufig nicht so gut wie bei Patienten mit akuten Beschwerden. Die Adhärenz nimmt bei ihnen sogar von Monat zu Monat ab. Bei MS-Patienten wurde 2015 in einer Studie untersucht, wie viele Patienten zwei Jahre nach Beginn der Therapie dieser noch treu sind. Das ernüchternde Ergebnis: 30 bis 40 Prozent. Die Gründe dafür können ganz individuell sein.
Fünf Faktoren, die die Adhärenz beeinflussen können, wurden in einem WHO-Bericht identifiziert. Dabei hat sich gezeigt, dass die Therapie selbst ebenfalls einen der Faktoren darstellt. Insbesondere spielen hier die Komplexität der Therapie, aber auch die Nebenwirkungen und die Behandlungsdauer eine Rolle. Identifiziert wurden auch personenbezogene Faktoren, wie Vergesslichkeit und das Vertrauen in die Therapie. Krankheitsbezogene Faktoren, wie der Grad der Einschränkungen, die der Patient durch die Erkrankung hat. Aber auch sozio-ökonomische Faktoren, die das Alter und den Familienstand des Patienten einbeziehen. Den fünften Punkt bilden Faktoren, die in Verbindung mit dem Gesundheitssystem stehen. Darunter fallen nicht nur Umstände, wie die Kapazitäten des jeweiligen Gesundheitssystems, sondern auch wie gut ein Patient über seine Therapie aufgeklärt wurde und wie die Arzt-Patient-Beziehung aussieht.
In der folgenden Abbildung sind diese einzelnen Faktoren und ihre Unterpunkte aufgelistet:

Grafik modifiziert nach: World Health Organization. Adherence to long-term therapies: evidence for action. 2003
Aber was genau ist z. B. mit der „Komplexität des Behandlungsregimes“ gemeint? Um das zu verstehen, müssen wir uns die unterschiedlichen Therapieformen der MS anschauen.
So besteht bei einer Dauertherapie, bei der täglich oder mehrmals wöchentlich Tabletten eingenommen oder Spritzen gesetzt werden müssen, die Gefahr, an manchen Tagen die Einnahme in der Hektik des Alltags zu vergessen. Eine weitere Gefahr ist, dass insbesondere Patienten, die von einer chronischen Erkrankung wie MS betroffen sind, mit der Zeit therapiemüde werden können. Speziell in den Phasen, in denen sie keine akuten Beschwerden haben.
Dieses Risiko ist hingegen bei der Impulstherapie nicht gegeben. Bei dieser wird das Medikament nur in bestimmten Behandlungsabschnitten eingenommen oder verabreicht – je nach Präparat als Tablette oder Infusion. Zwischen den Abschnitten liegt ein Abstand von einigen Monaten. Im Zeitraum zwischen den Abschnitten erfolgt keine Tabletteneinnahme oder Infusion, sodass diese auch nicht vergessen werden kann. Allerdings: Aufgrund der großen Abstände zwischen den Behandlungsterminen könnte es passieren, dass einige Patienten notwendige Folgetermine vergessen – und die Therapie so unabsichtlich vorzeitig abbrechen beziehungsweise nicht vollständig durchlaufen.
In einer Studie von 2022 wurden die beiden Therapieformen in Bezug auf die Therapieverweildauer verglichen. Untersucht wurden die Daten von etwa 3500 Patienten aus einem weltweiten MS-Register über einen Behandlungszeitraum von bis zu 3 Jahren. Etwa 600 dieser Patienten erhielten eine Impulstherapie, während die verbliebenen Patienten mit einer Dauertherapie behandelt wurden. Das Ergebnis dieser Studie hat gezeigt, dass Patienten unter einer Impulstherapie bis zu 7-fach länger bei ihrer Behandlung blieben als die Vergleichsgruppe.
Neben der Therapieform gehört auch die Art der Einnahme zur Komplexität einer medikamentösen Therapie. Aktuell sind MS-Therapien als Tabletten bzw. Kapseln, Injektionen oder Infusionen verfügbar. Jede dieser Variationen kann die Bereitschaft eines Patienten, seine Therapie konsequent zu verfolgen, beeinflussen. So empfinden manche Patienten eine orale Einnahme von Arzneimitteln als angenehmer, was sich wiederrum in Ihrer Therapietreue widerspiegelt. Doch auch bei Injektionstherapien zeigt sich, dass z. B. eine Vereinfachung der Therapie die Therapietreue erhöht.
Bestätigt wird dies durch eine Studie, die 2022 veröffentlicht wurde. In dieser haben Forscher über einen Zeitraum von zwei Jahren etwa 730 Patienten in Deutschland untersucht. Ziel der Studie war es herauszufinden, ob sich die Adhärenz bei Verwendung vollautomatischer, intelligenter Injektoren noch zusätzlich durch regelmäßige Arzt-Patienten-Gespräche verbessern lässt. Fazit der Autoren war, dass bereits die Nutzung des Gerätes zu einer hohen Adhärenz mit durchschnittlich 97,9 % geführt hat. Zusätzliche, sich wiederholende Reflektionsgespräche, bei denen die durch das Gerät aufgezeichneten Daten (wie Datum, Zeitpunkt und Dosierung der Injektion) evaluiert wurden, zeigten eine stabilisierende Wirkung auf die Adhärenz.
Allgemein ist das Problem mit der Therapietreue unter MS-Medizinern gut bekannt – gerade, weil es so verbreitet ist. Ihr Lösungsansatz ist eine bessere Aufklärung und eine engere Zusammenarbeit mit den Patienten. Das bedeutet: Je verständlicher und individueller der Therapieplan, desto leichter fällt dem Betroffenen die Durchführung.
Wenn Dich also etwas an Deiner Behandlung stört oder zweifeln lässt, dann sprich das beim nächsten Arzttermin ruhig an. Vielleicht gibt es alternative Therapiemöglichkeiten, die besser zu Deiner MS passen.
Denn ungeachtet der Gründe, die Folgen einer sogenannten Non-Adhärenz können schwerwiegend sein. Schließlich hat die MS-Therapie einen großen Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung – und damit auch darauf, wie schnell und wie stark sich die Symptome (weiter-) entwickeln.
Adhärenz und MS: Diese Fragen solltest Du Dir stellen
Um die Therapietreue zu verbessern oder zu erhalten, gibt es eine Reihe hilfreicher Maßnahmen. So ist Adhärenz zum Beispiel …
… eine Frage der Einstellung
Überlege Dir genau: Welche Bedeutung hat die Therapie für Dich im Alltag? Dient sie Dir nur der Behandlung von Beschwerden oder der Vermeidung von Symptomen? Deine Therapie ist mehr als das: Sie gibt Dir die Möglichkeit, aktiv Verantwortung für Deine Gesundheit zu übernehmen und Dich der MS im Alltag nicht so ausgeliefert zu fühlen. Sieh zum Beispiel die regelmäßige beziehungsweise vollständige Einnahme der Tabletten oder die Injektion der Medikamente nicht als lästige Pflicht, sondern als Mittel, die Multiple Sklerose so gut es geht unter Kontrolle zu halten und das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen.
… eine Frage des Vertrauens
Adhärenz funktioniert am besten, wenn Arzt und Patient gut zusammenarbeiten. Wie beurteilst Du das Verhältnis zu Deinem behandelnden Arzt? Fühlst Du Dich umfangreich informiert, und werden alle Deine Fragen zu Deiner Zufriedenheit beantwortet? Trau Dich, nachzufragen, wenn Du unsicher bist – egal wie häufig. Es geht um Deine Gesundheit.
… eine Frage der Therapie
Wie beurteilst Du Deine Therapie im Allgemeinen? Fühlst Du Dich wohl damit? Sollte das nicht der Fall sein, hast Du zum Beispiel das Gefühl, sie wirkt nicht (mehr) ausreichend oder Du empfindest zu viele bzw. starke Nebenwirkungen, sprich mit Deinem Arzt. Er wird gemeinsam mit Dir entscheiden, ob eventuell ein Therapiewechsel notwendig ist.
Weiterhin gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die dafür sorgen können, dass Du mit Deiner Therapie unzufrieden bist. In solchen Fällen solltest Du gemeinsam mit Deinem Arzt überlegen, ob eine andere Therapieform eine Alternative ist, die besser zu Dir und Deinem Alltag passt. Dieses Prinzip des „shared decision making“ beruht darauf, dass Du intensiv über mögliche Medikamente, Krankheitsverläufe und über das Therapieziel aufgeklärt wirst.
… eine Frage der aktuellen Lebenssituation
Deine Lebenssituation ist ebenfalls ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der Wahl Deiner Therapie. Bist Du zum Beispiel in der Schichtarbeit tätig? Bist Du privat stark eingebunden, so dass es Dir schwer fällt regelmäßige Termine wahrzunehmen? Wie ist Deine Mobilität, kannst Du ohne Probleme regelmäßig in ein Krankhaus oder eine Praxis kommen?
All das sind Fragen, die bei einer Therapieentscheidung berücksichtigt werden müssen. Denn sie entscheiden darüber, wie Du Deine Therapie am besten in Deinen Alltag integrieren kannst. Jemand, der viel beruflich unterwegs ist kann eine Therapie, die er oder sie selbständig und mobil einnehmen kann, wahrscheinlich besser in seinen Lebensstil einbinden als eine regelmäßige Infusion, die in einer Praxis durchgeführt wird. Eine solche Behandlung kann auch für Patienten, die im Beruf nicht offen mit ihrer Erkrankung umgehen, schwierig werden. In solchen Fällen kann es dann notwendig werden Urlaubstage für die Behandlung vor Ort aufzubrauchen. Umgekehrt kann es für andere Patienten, die lieber bei der Einnahme von medizinischem Personal unterstützt werden möchten, angenehmer sein eine solche regelmäßige Behandlung vor Ort zubekommen.
… eine Frage der Lebensplanung
Durch die aktuellen Therapien und die kontinuierlichen Fortschritte in der Forschung ist die Planung Deiner individuellen Zukunft trotz MS keine Einschränkung mehr für Deine Behandlung. Viele Therapien, die es heute gibt, ermöglichen es Betroffenen ihre Pläne umzusetzen. Seien es berufliche oder private Ziele.
Wie siehst Du Deine Zukunft mit MS? Möchtest Du studieren, international reisen oder möchtest Du vielleicht in naher Zukunft eine Familie gründen? Besprich diese und ähnliche Fragen mit Deinem Arzt und lass Dich entsprechend beraten.
So bleibst Du dran: Tipps für eine bessere Adhärenz bei MS in Deinem Alltag
Es gibt einige Dinge, die Du tun kannst, damit es Dir leichter fällt, Deine Therapie einzuhalten.
Termine:
Falls Du dazu neigst, Termine beim Arzt zu vergessen, lass Dich daran erinnern. Zum Beispiel durch einen digitalen Kalender mit Benachrichtigungsalarm in Deinem Smartphone. Du bist eher ein visueller Typ? Dann notiere Termine in einem Wandkalender, den Du Dir gut sichtbar in Deine Wohnung hängst. Platziere zusätzlich Merkzettel in der Wohnung, zum Beispiel am Kühlschrank oder Badezimmerspiegel.
Außerdem kannst Du in der Praxis Deines Arztes nachfragen, ob eine telefonische Erinnerung kurz vor dem Termin möglich ist. Ebenso kannst Du Dein persönliches Umfeld bitten, ein Auge darauf zu haben, dass Du nichts vergisst.
Die Termine selbst kannst Du mit etwas Angenehmem verbinden. Wenn Deine physische und psychische Verfassung es zulassen, dann plane eine Belohnung für Dich im Anschluss an deine Therapietermine ein. Z. B. ein leckeres Essen mit Freunden oder Familie oder einen gemeinsamen Kinoabend.
Medikamenteneinnahme:
Auch hier können (MS-)Apps, Kalender und Merkzettel gute Erinnerungsstützen sein. Außerdem kannst Du die Einnahme von Medikamenten sowie die Injektionen so in Deinen Alltag integrieren, dass sie ganz selbstverständlich werden. Verknüpfe sie zum Beispiel mit typischen Alltagsaktivitäten wie Deiner Morgen- oder Abendroutine. Ebenso können spezielle Patientenbegleitprogramme oder Therapiebegleitprogramme durch die persönliche Betreuung dazu beitragen, die Adhärenz zu verbessern. Lass Dich am besten von Deinem Arzt dazu beraten, welche Möglichkeiten es für Dich gibt.
Arztgespräche:
Manchmal scheuen sich Patienten davor mit Ärzten über ihre Probleme bei der Medikamenteneinnahme zu sprechen. Hier könnte es helfen, wenn Du auf MS-Nurses zugehst. MS-Nurses sind speziell ausgebildete Pflegefachkräfte, die Erfahrung im MS-Therapiemanagement haben. Unter anderem in den Punkten Therapietreue, Krankheitsbewältigung und Kommunikation. Sie sind Teil der multidisziplinären MS-Betreuungsteams und helfen Dir gerne bei Deinen Fragen rund um die MS.
Medikamentenplan:
Wenn Du Deine Therapie selbstständig zuhause einnimmst, kann es hilfreich sein Dir einen Medikamentenplan aufzustellen und eine entsprechende Medikamentenbox zu verwenden. Besonders wenn du mehr als ein Medikament einnehmen musst. So kannst du verhindern, dass Du den Überblick verlierst und gleichzeitig ein Auge darauf haben, dass Du Deine Rezepte rechtzeitig erneuerst.
Gesetzlich Versicherte haben sogar einen Anspruch auf einen bundeseinheitlichen Medikationsplan, wenn sie mindestens drei verschriebene Medikamente für mindestens 28 Tage gleichzeitig einnehmen. Dieser kann auf Wunsch auch auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden.
Doch ganz egal, wie Du es machst: Die Hauptsache ist, dass Du Deinen Therapieplan befolgst. Denn auch die beste Therapie kann nur dann wirken, wenn Du Dich an die vereinbarten MS-Behandlungspläne hältst.
DE-NONNI-00231, 01/23