
Mehr als Schübe: Was ist MS-Progression?
Multiple Sklerose verläuft bei jedem Betroffenen individuell. Dennoch ist es typisch für die Krankheit, dass die MS-bedingten Einschränkungen im Laufe der Jahre zunehmen: Die MS schreitet voran. Die sogenannte Progression (auch als „Progredienz“ bezeichnet) muss dabei nicht im Zusammenhang mit Schüben stehen: Neben einer schubassoziierten Verschlechterung (RAW: relapse-associated worsening) kann auch eine schubunabhängige Progression (PIRA: progression independent of relapse activity,) zu einer zunehmenden Behinderung und verschlechterten neurologischen Funktion im Krankheitsverlauf führen. Das bedeutet: Selbst, wenn sich MS-Symptome nach einem Schub wieder zurückbilden, können unbemerkt dennoch chronische Entzündungsprozesse ablaufen, die den Verlauf der MS beeinflussen.
Die Symptome für eine Progression bei MS können sehr vielfältig sein. Sie reichen von muskulären Probleme, über Gehstörungen oder Fatigue (s. Abbildung).
Nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch in der MS-Forschung ist diese Entwicklung ein zentrales Thema: Wurde die Wirksamkeit einer Therapie früher hauptsächlich daran gemessen, wie stark die Schubfrequenz gemindert werden konnte, findet in den Studien mittlerweile auch die (schubunabhängige) Progression eine immer stärkere Beachtung.
Verschiedene Verlaufsformen und ihre Bedeutung für die MS-Progression
Um sich dem Thema der Progression anzunähern und diese näher zu definieren, spielen die Verlaufsformen der MS eine entscheidende Rolle. Grundsätzlich wird dabei zwischen schubförmigen und fortschreitenden Verlaufsformen unterschieden:
- Schubförmig-remittierende MS (RRMS): Diese Form ist durch Phasen von Schüben und Remissionen gekennzeichnet. Während der Schübe treten neue oder sich verschlechternde neurologische Symptome auf, die sich teilweise oder vollständig zurückbilden können. Zwischen den Schüben kann es zu einer stabilen Phase ohne Krankheitsaktivität kommen.
- Sekundär progrediente MS (SPMS): Diese Form entwickelt sich aus der schubförmig-remittierenden MS und ist durch eine allmähliche Verschlechterung der neurologischen Funktion gekennzeichnet, unabhängig von Schüben.
- Primär progrediente MS (PPMS): Die PPMS geht von Beginn an mit einer kontinuierlichen Zunahme der Behinderung ohne erkennbare Schübe einher.
In den meisten Fällen ist es so, dass sich MS zunächst als schubförmig manifestiert und im Krankheitsverlauf in eine chronische, „progrediente“ Form übergeht. Früher ging man davon aus, dass die Krankheitsphasen tatsächlich nacheinander stattfinden. Nach aktuellem Stand der Forschung verhält es sich jedoch eher so, dass auch bei schubförmiger MS, möglicherweise von Anfang an, chronische Entzündungsprozesse im zentralen Nervensystem (d. h. im Gehirn und Rückenmark) stattfinden. Die schubunabhängige Progression rückt dadurch nach einer gewissen Zeit in den Vordergrund.
Wie schnell schreitet die MS voran – Progression messbar machen
Es gibt derzeit keinen einzelnen Test, der konkret die Progression bei MS erfassen kann. Es kommt daher eine Kombination aus verschiedenen klinischen und bildgebenden Verfahren zum Einsatz. Den höchsten Stellenwert hat dabei die EDSS (expanded disability status scale). Dabei handelt es sich um eine Skala, die den Grad der Behinderung beurteilt, insbesondere im Hinblick auf die Gehfähigkeit. Auch Tests wie der 9 Hole Peg Test oder der Timed 25-Foot-Walk kommen infrage. Ergänzt werden diese unter anderem durch MRT-Bilder sowie bestimmte Biomarker im Blut oder Liquor. Auch die Sichtweise der Betroffenen selbst ist wichtig: So können Fragebögen zur Lebensqualität (z. B. der Multiple Sclerosis Quality of Life-54, MSQOL-54) die Auswirkung der MS auf das tägliche Leben und das Wohlbefinden bewerten.
MS-Progression: Weitere Einflussfaktoren
Nicht nur die diagnostizierte MS-Verlaufsform beeinflusst die Progression. Es existieren darüber hinaus noch weitere, nicht krankheitsbezogene Faktoren, die sich auf die MS-Progression auswirken können. Die meisten davon kannst Du als Betroffener nicht beeinflussen – dennoch ist es wichtig, sie zu kennen und vielleicht auch mit dem behandelnden Arzt darüber zu sprechen. Dazu zählen beispielsweise:
- Lebensstil und Umweltfaktoren, z. B. das Rauchen. Bekannt ist, dass Rauchen die Entzündungsvorgänge im Körper fördert. Studien belegen zudem, dass Zigaretten nicht nur das Risiko erhöhen, dass die MS ausbricht, sondern auch die Progression beeinflussen kann.
- Weitere Erkrankungen, etwa chronische oder wiederholte Infektionen
- Genetische Risikofaktoren
- Geschlecht: Obwohl Frauen häufiger an MS erkranken, besteht bei Männern ein erhöhtes Risiko für eine raschere MS-Progression
- Alter bei Krankheitsbeginn
- Hormonelle Faktoren, z. B. die Wechseljahre
Stellenwert eines frühen Therapiebeginns
Der wohl wichtigste Faktor, um die MS-Progression zu verlangsamen, ist jedoch weder genetisch noch umweltbedingt. Es ist der der Zeitpunkt des Therapiebeginns. Jede Therapie mit modernen, krankheitsmodifizierenden MS-Medikamenten verfolgt nicht nur das Ziel, Schübe zu reduzieren, sondern auch, die Progression möglichst zu verhindern oder zu verringern und so die Lebensqualität zu erhalten.
Um diese Therapieziele zu erreichen, gibt es zwei unterschiedliche Strategien. Der „Treat to Target“-Ansatz bedeutet, die Therapie mit einem Medikament aus einer niedrigeren Wirksamkeitsklasse zu starten und bei Bedarf – also abhängig vom Ansprechen des Pateinten oder der Progression – zu steigern. Im Gegensatz dazu zielt die „Hit hard and early“-Strategie darauf ab, bereits von Anfang an mit einem hochwirksamen Medikament zu therapieren, um die Krankheitsaktivität schnell und effektiv zu unterdrücken. Eine Studie hat die beiden Behandlungsstrategien verglichen und kam zu dem Schluss, dass die frühe Intervention im Hinblick auf die Krankheitsaktivität, aber auch auf die Progression die erfolgversprechendere Strategie sein könnte.
Du hast Fragen zu Deiner MS-Therapie oder zum Thema MS-Progression? Dann sprich mit Deinem behandelnden Arzt darüber. Er kennt Dich und Deinen individuellen MS-Krankheitsverlauf genau und weiß, welche Behandlungsstrategie für Dich am besten geeignet sind. Zudem kann es sein, dass Dir Dein Arzt bei einer Progression Deiner MS vorschlägt, Deine Therapie anzupassen. Wenn Du Dich darüber informieren möchtest, haben wir hier, hier und hier einige Informationen zum Thema Therapiewechsel für Dich zusammengefasst. Einen Überblick über die aktuell verfügbaren MS-Medikamente findest Du hier.
Wie sind Deine Erfahrungen mit dem Thema MS-Progression – hast Du manchmal das Gefühl, dass Deine MS sich verändert? Tausche Dich gern mit der Community darüber aus – zum Beispiel auf unseren Social-Media-Kanälen bei Facebook oder Instagram.