
Älter werden mit MS – Interview mit Dr. Derksen
Dr. Angelika Derksen ist Fachärztin für Neurologie und leitet seit 2017 ihre eigene Neuropraxis in Düsseldorf. Ihre langjährige Erfahrung in der Behandlung neurologischer Erkrankungen, insbesondere der Multiplen Sklerose, befähigt sie, die besonderen Herausforderungen älterer MS-Patient:innen zu erkennen und gezielt anzugehen. In ihrem Interview erörtert sie u. a., welche Faktoren bei der Therapieentscheidung für diese Patient:innengruppe berücksichtigt werden müssen, und welche spezifischen Herausforderungen sich aus Begleiterkrankungen und der Immunoseneszenz ergeben können.
Herausforderungen in der Behandlung von MS im Alter
Welche Herausforderungen treten bei älteren MS-Patient:innen im Zusammenhang mit der Behandlung der MS-Erkrankung auf?
Die Behandlung von älter werdenden Patient:innen, die an einer Multiplen Sklerose leiden, bringt viele verschiedene Herausforderungen mit sich. Dies ergibt sich unter anderem dadurch, dass die Prävalenz an Begleiterkrankungen mit zunehmendem Alter der Patient:innen steigt. So kann es, unabhängig von der Grunderkrankung MS, zu zusätzlichen Erkrankungen kommen. Darunter beispielsweise Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, zu malignen, orthopädischen oder rheumatologischen Erkrankungen sowie neurodegenerativen Erkrankungen, wie etwa Demenz oder Parkinson.
Ein weiterer die Therapieentscheidung erschwerender Faktor ist die Immunoseneszenz, das heißt, das Immunsystem wird mit zunehmendem Alter „schwächer,“ und das Risiko für Infektionserkrankungen steigt. Daher müssen hocheffektive, krankheitsmodifizierende MS-Medikamente (disease modifying therapies, DMTs), die teils mit einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko verbunden sind, mit großer Vorsicht und unter engmaschiger Kontrolle angewendet werden. Sollte es zu mehreren schweren Infektionserkrankungen unter hoch effektiven DMTs kommen, muss ggf. sogar die Therapie beendet und auf eine besser verträgliche Medikation umgestellt werden.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Veränderung des Immunsystems im Alter eine Veränderung des Krankheitsverlaufs der MS mit sich bringen. Klassische Schubereignisse beispielsweise treten mit zunehmendem Alter seltener auf und das Risiko der Entwicklung einer sekundär chronisch progredienten Verlaufsform (SPMS) steigt. Insbesondere für die chronisch progrediente Verlaufsform gibt es unerfreulicherweise weniger und unzureichendere Behandlungsoptionen.
Erschwerend kommt hinzu, dass ältere Patient:innen häufig nicht Teil von klinischen Studien sind. Daher gibt es nur begrenzte Informationen zur Wirksamkeit und Sicherheit von vielen verschiedenen MS-Therapien bei älteren Patient:innen.
Gibt es altersspezifische Überlegungen bei der Auswahl von Medikamenten zur Behandlung von MS bei älteren Patient:innen?
Letztendlich muss die Therapiewahl , egal in welcher Altersklasse, sehr patient:innenzentriert erfolgen und sich dem individuellen Krankheitsverlauf, den Vorerkrankungen und nicht zuletzt dem Patient:innenwunsch anpassen.
Sollte es der Krankheitsverlauf allerdings zulassen, also z. B. bei langjähriger Schubfreiheit, klinischer Stabilität und Stabilität in den jährlichen Kontroll-MRTs, wäre aufgrund der zu erwartenden Immunoseneszenz im Alter eine Deeskalationsstrategie, das heißt ein Wechsel auf ein wirkungsschwächeres Medikament, zu diskutieren. Eine alternative Überlegung könnte die Verwendung eines MS-Medikamentes im Alter sein, das keine chronische Immunsuppression zur Folge hat.
Welche Rolle spielen andere Erkrankungen (Komorbiditäten) und deren Behandlung (Ko-Medikation) bei älteren MS-Patient:innen und wie können diese die MS-Behandlung beeinflussen?
Das Auftreten von Komorbiditäten stellt eine große Herausforderung dar. Insbesondere Erkrankung im kardiovaskulären oder osteoartikulären (Anm. d. Red.: Die Knochen und Gelenke betreffend) Bereich können sich direkt negativ auf neurodegenerative Prozesse im Rahmen der Multiplen Sklerose auswirken und diese möglicherweise beschleunigen.
Weiterhin können Komorbiditäten die Zuordnung eines neuen neurologischen Phänomens erschweren. So lässt es sich beispielsweise klinisch schlecht unterscheiden, ob eine neu aufgetretene Störung des Gedächtnisses Ausdruck einer Verschlechterung der vorbekannten Multiplen Sklerose oder im Rahmen beispielsweise eines beginnenden dementiellen Prozesses zu werten ist. Dies gilt für viele neurologische Phänomene wie progrediente Gangstörungen, das Auftreten von Blasenfunktionsstörungen sowie von Gleichgewichts- und Schwindelbeschwerden. All diesen Symptomen können Erkrankungen aus anderen Formkreisen zugrunde liegen, wie etwa orthopädische, urologische oder HNO-Erkrankungen.
Weiterhin führen Komorbiditäten zur Notwendigkeit einer Vielzahl unterschiedlicher Medikamente, was als Polypharmazie bezeichnet wird. Hier können Wechselwirkungen oder gar Kontraindikationen mit der MS-Medikation auftreten. Je unübersichtlicher die Medikamentenanzahl und je mehr Nebenwirkungen durch die Vielzahl der Medikamente auftreten, desto größer ist das Risiko, dass Patient:innen ihre Therapien eigenmächtig absetzen oder nur unregelmäßig einnehmen und sich somit das Risiko erhöht, dass sich die Grunderkrankung verschlechtert.
Andererseits kann aber auch eine langjährig bestehende MS-Therapie eine Ursache für das Auftreten von Erkrankungen sein. Hier sind beispielsweise Leberfunktionsstörungen, Infektionskrankheiten, aber auch maligne Erkrankungen zu nennen, die bösartige Erkrankungen umfassen, die die Gesundheit stark gefährden können, wie z. B. Krebs.
Welche Anpassungen oder speziellen Behandlungsstrategien werden bei älteren MS-Patient:innen in Betracht gezogen, um die Sicherheit und Verträglichkeit zu gewährleisten?
Es gibt viele verschiedene Ansätze zur Deeskalation, darunter der Wechsel von hoch- zu niedrig-wirksamen krankheitsmodifizierenden Therapien oder gar Absetzen der DMTs. Ob und ab welchem Alter Patient:innen für eine Therapieeskalation in Frage kommen hängt in erster Linie vom Krankheitsverlauf der letzten 5-10 Jahre ab. Weitere wichtige beeinflussende Faktoren sind aber auch neu hinzugetretene Komorbiditäten und deren Behandlungen, aber eben auch mögliche Nebenwirkungen der vorherigen MS-Therapie. Eine alternative Behandlungsoption zur Deeskalation im Alter besteht darin, Medikamente einzusetzen, die das Immunsystem nicht dauerhaft supprimieren.
Veränderungen der MS im Alter
Welche Auswirkungen hat das Fortschreiten des Alters auf die Symptome und den Krankheitsverlauf von MS? Gibt es altersbedingte Unterschiede in den Symptomen und dem Verlauf von MS bei älteren Patient:innen im Vergleich zu jüngeren Patient:innen?
Mit zunehmendem Alter ändert sich der Verlauf der Multiplen Sklerose signifikant. Insgesamt kommt es seltener zu Schubereignissen, die Erholung von Schüben ist deutlich verlangsamt und hinterlässt häufig Residuen. Insgesamt erhöht sich das Risiko der Entwicklung einer progredienten Verlaufsform. Das erklärt sich durch eine Verschiebung des Phänotyps von einer entzündlichen zu einer neurodegenerativen Erkrankung.
Wie kann die MS und deren Behandlung bei älteren Patient:innen die Lebensqualität und das Wohlbefinden beeinflussen?
An erster Stelle steht das Verständnis für Selbstwirksamkeit bei den Patient:innen. Hiermit ist gemeint, dass Patient:innen über Veränderung ihres eigenen Verhaltens einen positiven Einfluss auf ihre MS-Erkrankung und auch ihren mentalen Zustand nehmen können. Hierzu zählen beispielsweise eine gesunde und ausgewogene Ernährung, körperliche Bewegung und Sport, Einhaltung einer Schlafhygiene, Aufbau eines sozialen, unterstützenden Netzwerks und Reduktion von Stresserleben.
Weiterhin sollten symptomorientierte Behandlungen erfolgen. Hierzu zählt neben dem Einsatz von Medikamenten gegen die unterschiedlichen MS-Symptome die regelmäßige bedarfsadaptierte Behandlung mit Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie oder auch einer Psychotherapie.
Welche körperliche Aktivität könnte sich im Alter positiv auf den MS-Krankheitsverlauf auswirken?
Jegliche körperliche Aktivität ganz nach Vorlieben der Patient:innen ist dem Krankheitsverlauf zuträglich und wirkt sich positiv auf diesen aus. Es gibt keine Empfehlung für eine spezielle Sportart, vielmehr ist es wichtig, dass die Patient:innen dabei Freude empfinden und eine Regelmäßigkeit stattfindet.
Bedeutung des sozialen Umfelds für ältere MS-Patient:innen
Welche Rolle spielt die Unterstützung des sozialen Umfeldes, also von Familie, Freunden und Nachbarn, bei der Behandlung von älteren MS-Patient:innen?
Ein unterstützendes soziales Netzwerk wirkt sich nachweislich positiv auf Krankheitsbewältigung und -akzeptanz aus und erhöht somit die Adhärenz für medikamentöse und nicht medikamentöse Behandlungsstrategien. Somit hat es einen immensen direkten und indirekten Einfluss auf den Krankheitsverlauf der Patient:innen.
Alt werden mit MS
Vor welcher Herausforderung stehen Behandler:innen, wenn man das Immunsystem von älteren MS-Patient:innen betrachtet?
Die größte Herausforderung sehe ich darin, dass es noch zu wenig Verständnis über die Veränderungen des Immunsystems im Alter bzw. Immunoseneszenz bei MS gibt. Daher können wir nicht ausreichend abschätzen, welche schweren Langzeitnebenwirkungen hochwirksame DMTs im Alter mit sich bringen können; zum einen gibt es die Gefahr eines Krankheitsrebounds im Falle einer Deeskalation und zum anderen die Sorge vor schweren Komplikationen durch die hochwirksame MS-Therapie bei einem im Alter geschwächten Immunsystem. Eine Gratwanderung!
Inwiefern wird das Älterwerden mit der MS-Erkrankung in der Forschung und in Studien berücksichtigt, und gibt es neue Erkenntnisse aus Studien mit älter werdenden MS-Patient:innen, die etwa ab 50 Jahren betrachtet werden?
Das Älterwerden mit einer MS-Erkrankung ist tatsächlich eine sehr aktuelle Thematik und Gegenstand der neusten Forschungen. Sie konzentrieren sich auf die einzigartigen Bedürfnisse und Herausforderungen dieser Patient:innengruppe. Wünschenswert ist die Untersuchung von Behandlungsoptionen für ältere MS-Patient:innen sowie die Entwicklung von Leitlinien und Empfehlungen zu ihrer Behandlung.
Vielen Dank Dr. Derksen für dieses Gespräch!
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DE-NONNI-00816, Stand 11/2024