Hilfe von und für Angehörige bei MS

„In Deutschland leben geschätzt 250.000 MS-Betroffene.“ Das ist eine Statistik, auf die jeder, der sich mit MS beschäftigt, früher oder später stößt. Dabei ist diese Aussage so, wie sie hier steht, nicht ganz korrekt: Ja, in Deutschland leben in etwa 250.000 Menschen, bei denen Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, aber die Zahl der Betroffenen liegt weit darüber. Denn betroffen sind nicht nur die Erkrankten selbst. Jeder von uns hat Freunde, Familie, Arbeitskollegen und andere Personen, die ihm nahestehen. In den wenigsten Fällen sind diese Menschen nur passive Zuschauer in unserem Leben. Im Gegenteil, in der Regel spielen sie darin eine aktive Rolle. Sie freuen sich mit uns über Erfolge und Glücksmomente und nehmen Anteil an unseren Sorgen und Nöten.

Viele der Patienten, mit denen wir gesprochen haben, beschreiben, dass ihnen nahestehende Personen oder andere Betroffene bei der Bewältigung und im Umgang mit ihrer MS eine enorme Stütze sind.

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Beratung für Angehörige: MS begreifen – Persönlichkeit der Patienten verstehen – Respekt aufbringen

Die Art und Weise, wie Mitbetroffene MS-Patienten unterstützen können, ist genauso individuell wie die Erkrankung selbst. Es gibt aber eine Reihe von Kernpunkten:

Die Krankheit kennen

Das ist das A und O, wenn Ihr Erkrankte im Umgang mit ihrer Krankheit unterstützen möchtet. Dadurch schafft Ihr die Basis für gleich mehrere wichtige Aspekte:

  • Ihr entwickelt ein Verständnis für die Bedürfnisse der Patienten.
  • Ihr erhaltet eine Wissensgrundlage, die es Euch ermöglicht, mit Patienten und Ärzten über die MS zu sprechen.
  • Ihr zeigt den Patienten, dass Euch das Thema wichtig ist und Ihr Euch aktiv damit auseinandersetzt.
  • Ihr könnt eine Vorstellung davon entwickeln, welche Sorgen, Bedenken und Ängste MS-Erkrankte beschäftigen und belasten können.
  • Ihr könnt dazu beitragen, andere Menschen über die MS aufzuklären.

Es gibt zahlreiche Quellen, die Euch dabei helfen können, mehr über die MS zu erfahren. An erster Stelle Ärzte und andere MS-Experten sowie zahlreiche Literatur- und Internetangebote. Über alle diese Kanäle könnt Ihr Euch z. B. über die Grundlagen der MS, mögliche Symptome und Behandlungsoptionen informieren.

Anerkennung der Individualität

Genauso wenig, wie es „die eine MS“ gibt, gibt es „den einen Patienten“ oder „den einen Mitbetroffenen“. Jeder Mensch hat seine eigenen Wünsche, Lebensziele, Grenzen und Bedürfnisse. Unter anderem in unseren Mutmachgeschichten zeigt sich, dass für manche Patienten auch gutgemeinte Fürsorge erdrückend sein kann, während sich andere ein größeres Maß an Verständnis und Unterstützung wünschen würden. Genauso, wie es Unterschiede darin geben wird, wie viel Hilfe Ihr den Patienten geben wollt und könnt. Vergesst daher nicht, die Persönlichkeiten aller Beteiligten mit einzubeziehen und zu überlegen, welcher Typ Mensch Ihr und der Patient seid.

Sprecht gemeinsam darüber, wie Ihr in Zukunft kommunizieren wollt und wo Eure Grenzen liegen. Dabei könnten Euch die folgenden Fragen helfen:

  • Wie würdet Ihr Euren Persönlichkeitstyp beschreiben? Seid Ihr z. B. ängstlich, extrovertiert, dramatisch, ungeduldig? Neigt Ihr zur Überfürsorglichkeit? Wie geht Ihr mit Verantwortung um?
  • Wo seht Ihr Konfliktpotenziale und wo Chancen?
  • Sprecht Ihr Probleme offen an oder ist es Euch eher unangenehm, über Gefühle zu sprechen? Wie könnt Ihr hier Differenzen überbrücken?
  • Wenn Ihr vor einem Problem steht, wollt Ihr direkt mit einer Lösung durchstarten oder Euch zuerst umfassend informieren? Wie wollt Ihr in Zukunft mit solchen Situationen umgehen?
  • Gibt es bestimmte Verhaltensweisen, die Euch besonders schnell reizen? Wenn ja, warum, und wie kann man sie vermeiden?
  • Gibt es bei Euch nonverbale Warnsignale, auf die Euer Gegenüber achten kann? Welches Verhalten wünscht Ihr Euch, wenn Ihr diese Warnsignale sendet?

Nutzt die Antworten, um miteinander ein Vorgehen für zukünftige Problemlösungen auszuarbeiten und wiederholt das Gespräch in regelmäßigen Abständen, denn Persönlichkeiten verändern sich mit jedem gelebten Tag.

Verständnis und Respekt

Was in der Theorie so einfach klingt, ist es in der Praxis leider nicht immer. Trotz einer guten Behandlung kann es dazu kommen, dass, je nach Krankheitsfortschritt, Patienten und ihre Angehörigen Anpassungen im Alltag oder in ihrer Lebensplanung vornehmen müssen. Ein Beispiel dafür ist das Auftreten von kognitiven Einschränkungen, wie Fatigue, Depression oder Gedächtnisproblemen. Es gibt bei MS sehr viele solcher Symptome, die unsichtbar auftreten können, sodass man sie nicht gleich auf den ersten Blick wahrnimmt, und viele Patienten müssen darum kämpfen, dass diese Einschränkungen ernst genommen werden. Daher ist es wichtig, dass Ihr Patienten mit Empathie und Einfühlungsvermögen begegnet. Generell ist es von Bedeutung, dass Mitbetroffene Verständnis für die Patienten und eventuelle Leistungsverminderungen aufbringen, ohne den Erkrankten das Gefühl zu geben, unzulänglich zu sein oder sie gar zu bevormunden.

Daher spielt Respekt eine so wichtige Rolle: Jeder Erkrankte verarbeitet und bewältigt die MS anders und auch Erkrankte haben – wie alle Menschen – gute und schlechte Tage. Respektiert sie, in dem Ihr mit ihnen aktiv kommuniziert und ihnen zuhört:

  • Scheut Euch nicht, zu fragen, ob Eure Hilfe gerade erwünscht oder eher hinderlich ist und akzeptiert die Antwort.
  • Vermeidet Floskeln. Sätze wie „Das wird schon wieder“, „Ich bin auch mal müde“ oder „Oh ja, ich komme auch oft ins Straucheln“ bagatellisieren die Erkrankung und die Beschwerden der Patienten. Auch die Frage „Wie geht es dir?“ solltet Ihr nur dann stellen, wenn sie wirklich ernst gemeint ist und Ihr eine ehrliche Antwort darauf erhalten wollt.
  • Ermutigt MS-Betroffene dazu, Dinge selbstständig zu erledigen und – soweit möglich – ihre körperlichen oder kognitiven Grenzen auszubauen. Diese Form der Unterstützung mag auf den ersten Blick harsch wirken, sie ist aber von großer Bedeutung. Wissenschaftlich gesehen spielt hier der in der Psychoanalyse definierte „sekundäre Krankheitsgewinn“ eine Rolle. Dabei geht es darum, dass die Bereitschaft von Patienten, aktiv an einer Verbesserung ihrer Erkrankung zu arbeiten, abnehmen kann, wenn die positiven Effekte der ihnen gebotenen Unterstützung, wie beispielsweise Aufmerksamkeit und Zuwendung, die negativen Folgen der Krankheit überwiegen. Wichtig: Förderung heißt nicht Vernachlässigung. Gebt den Patienten daher zu verstehen, dass Eure Hilfe immer zur Verfügung steht, wenn sie benötigt wird.
  • Teilt Eure Gedanken und Gefühle mit den MS-Betroffenen. Das schafft einen vertrauensvollen Umgang mit der Erkrankung, die Euch als Team festigt. Aber Vorsicht: Wenn es um die Krankheit geht, stehen immer noch die Empfindungen und Meinungen der erkrankten Personen im Mittelpunkt.
  • Akzeptiert die Wünsche der Patienten, auch wenn sich diese von Euren unterscheiden sollten!

Kennt Eure Grenzen

Eine chronische und unheilbare Erkrankung bedeutet eine dauerhafte Veränderung, die nicht mehr weggeht. Daher ist es gut und gesund, die eigenen Grenzen zu kennen und zu wissen, wann Ihr selbst Unterstützung benötigt.

Betroffene und Mitbetroffene stehen insbesondere während eines Schubs unter einer außerordentlichen Belastung. Speziell, aber nicht nur während solcher Phasen kann es passieren, dass Eure Bedürfnisse aus den Augen verloren werden. Um aus solchen Situationen wieder auf einen stabilen Beziehungspfad zu gelangen, ist eine offene und ehrliche Kommunikation unter allen Beteiligten unerlässlich:

  • Sprecht Dinge an, die Euch belasten, bevor die Situation eskaliert. Beachtet jedoch, dass es für alles einen rechten Ort und eine passende Zeit gibt. Während einer Stresssituation, z. B. während eines Schubs, ist es wenig ratsam, Patienten noch weiter zu belasten.
  • Kommuniziert Eure Grenzen. Es hilft wenig, zu wissen, wo die eigenen Grenzen liegen, wenn man sie nicht konstruktiv vermitteln kann. Eine zwischenmenschliche Beziehung lebt von Zusammenarbeit, Kompromissbereitschaft und Rücksichtnahme. Das bedeutet, dass Patienten Eure Grenzen genauso respektieren und akzeptieren müssen wie Ihr die ihren.
  • Gebt, wo es möglich und förderlich ist, Verantwortung an andere Unterstützer ab. Sprecht solche Maßnahmen aber im Vorhinein unbedingt mit allen Beteiligten ab.
  • Sucht nach Hilfsangeboten außerhalb des direkten Umfeldes, wie z. B. durch Psychologen, die Euch aufzeigen können, wie Ihr mit der psychischen Belastung umgehen könnt. Solche Angebote findet Ihr über ärztliche Empfehlungen, eigene Recherche oder online. Eine weitere Möglichkeit sind Selbsthilfegruppen, in denen Ihr Euch mit Menschen in ähnlichen Situationen austauschen könnt. Aber auch internationale Initiativen, die sich direkt an Mitbetroffene und pflegende Personen richten.

Anschautipp für Patienten und Angehörige: Unsere MS Dokumentation

Im Rahmen unserer internationalen Initiative „MS Inside Out“ haben wir 2018 einen Dokumentarfilm produziert, der die MS aus Patienten- und aus Angehörigensicht in Szene setzt. In diesem preisgekrönten Film erhaltet Ihr bewegende Einblicke in das Leben mit MS und wie unterschiedliche Patienten und Mitbetroffene dieses Leben meistern.

Um Euch noch mehr praktische Tipps für den Umgang mit der Erkrankung und miteinander – insbesondere im klinischen Umfeld – zu bieten, haben wir für Euch bei einem Medizinischen Versorgungszentrum nachgefragt, wie Ihr Patienten bei Arztgesprächen und -besuchen effektiv unterstützen könnt. Was die Experten des MVZ Angehörigen und Mitbetroffenen raten, erfahrt Ihr in unserem nächsten Beitrag. Bis dahin freuen wir uns auf Euer Feedback und Eure Themenwünsche rund um die MS auf Facebook und Instagram.

Go care – Go for life!

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